Nicola Walde und ihre Leidenschaft fürs Extremradeln
Nie zuvor ist es einem Menschen gelungen, aus eigener Kraft mehr als 1219 Kilometer weit zu kommen. Erst der Rekord-Fahrradathlet Christian von Ascheberg konnte
vor acht Jahren diese beachtliche Leistungsgrenze setzen. Nicola Walde nahm die Herausforderung an. Sie ist athletisch, hat Ehrgeiz und konnte Opel von ihrem Vorhaben überzeugen. Der
Automobilhersteller war einst größter Radproduzent der Welt. Ihr Dank aber geht vor allem an Daniel Fenn. Der hat das Liegerad entwickelt, mit dem sie im Opel Test Center in Rodgau-Dudenhofen
Geschichte schreiben wollte.
Das Velomobil wiegt nur 14 Kilogramm und wurde von Daniel Fenn konstruiert. ©Opel
Das Leiden der Nicola Walde fand irgendwann in den frühen Morgenstunden ihren Höhepunkt . Das wusste auch sie nur zu gut. „Es ist ein verdammt schmerzhaftes
Vorhaben“, erzählt sie uns im Interview, wenige Stunden vor ihrem Martyrium, dass sie selbst gewählt hat, auf dass sie sich aber minutiös mit ihrem Partner vorbereitet hat. Innerhalb von nur
24 Stunden wollte sie mit ihrem Liegerad mehr als 1219 Kilometer weit fahren. Das wäre ein Weltrekord. Allerdings keiner wie viele andere.
Im August 2010 schaffte es nämlich der Rekord-Fahrradathlet Christian von Ascheberg die 1219 Kilometer innerhalb von genau 24 Stunden abzuradeln. Als Gefährt
nutzte er ein Milan-Dreirad, gekapselt und stromlinienförmig verkleidet. Damit erreichte er eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 50,8 km/h. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit
gelang es einem Menschen, aus eigener Kraft eine Entfernung von 1219 Kilometer an einem Tag zurückzulegen. Nici Walde nahm das Duell Frau gegen Mann auf.
Daniel Fenns genial leichte Konstruktion
In diesen aerodynamisch geformten 1,44 Kubikmeter also soll das bisher Unmögliche zu schaffen sein. Das aus Carbon gefertigte 257 Zentimeter lange, 64
Zentimeter breite und 88 Zentimeter hohe Gefährt hat Daniel Fenn konstruiert. Das Modell M des Velomobilkonstrukteurs musste allerdings für die 24 Stunden in allen Belangen optimiert werden.
Die Wahl der 29-Zoll-Reifen, die er im Angebot von Schwalbe (Variante Big One) fand, war da nur eine Frage der Abwägung zwischen Geschwindigkeit und Trägheitsmoment. Bei den anderen
Komponenten gewann jenes Teil, das bei maximaler Steifigkeit das geringste Gewicht vorweisen konnte.
So wiegt etwa die Lenkeinheit plus Querlenker nur 330 Gramm. Inklusive aller anderen Bauteile, die am Velomobil verbaut wurden, summiert sich das Gewicht des
vollgekapselten Liegerads auf nur 14 Kilogramm. Damit sind laut ersten Messungen gerade einmal 100 Watt notwendig, um auf einer Ebene eine Dauergeschwindigkeit von etwa 56 bis -57 Kilometer
pro Stunde zu halten. „96 Watt sind für mich kein Problem“, erzählt Nici uns kurz vor dem Start. „Aber 102 Watt sind auch drin“. Bleiben also nur noch die Schmerzen. Über die reden wir auch
noch.
In der Nacht kommen die Schmerzen
„Irgendwann in der Nacht werden sie da sein“, ist die Athletin sich sicher. Vor allem der direkte Kontakt zum Fahrrad wird schmerzhaft sein. Dann erzählt
sie, wie sich beim Training der Nerv unter der Fußsohle entzündet hat. Den Muskelkater fürchtet sie nicht so sehr. Auch deshalb hat Daniel Fenn viel Engagement in der ergonomisch korrekten
Konstruktion der Sitzschale investiert. Da er selbst Ausdauersportler ist, weiß er nur zu gut, dass einem ein mittelmäßig guter Sitz erst nach vielen hundert Kilometern den letzten Nerv
rauben wird. Einen schlecht passenden Sitz spürt man nämlich sofort.
Die beiden oberen Bilder zeigen die Oberschale in der Form, daneben die Unterschale. Wegen der geringen Wandstärke von nur 0,8 mm erhält die Konstruktion seine
Stabilität erst mit dem Zusammenbau.
Die unteren beiden Bilder zeigen den Einbau des Freilaufs. Dieser wird direkt an die CFK-Verkleidung angebracht. ©Daniel Fenn
Damit Nicola Walde nicht nach der Halbzeit am Sitz verzweifelt, wurde die Sitzschale mehrmals mit Gips bestrichen, auf der die Sportlerin sich dann mehrmals setzen musste, um einen getreuen
Abdruck zu hinterlassen. Das Liegerad wurde damit peu-a-peu der zierlichen Sportlerin maßgeschneidert angepasst. Erste Fahrversuche stimmten beide zuversichtlich. Nun war es an der Zeit, eine
ebene, für solch einen Weltrekord geeignete Fahrbahn zu finden. Das Opel Test Center in Rodgau-Dudenhofen wurde durch eine glückliche Fügung gefunden. Dazu später mehr.
Die ungewöhnliche Karriere der Nicola Walde
Es sind immer die Zufälle, die das Leben schreiben. Bei Nicola Walde aber scheinen es auch die außergewöhnlichen Umstände wenn nicht gar Katastrophen zu
sein, die ihren Weg vorherbestimmen. „Ungeplant, geboren bei Sturmflut am Rande von Hamburg an einem dieser Ökowochenenden im Dezember 1973 mit autofreiem Sonntag“, fasst sie für uns in einem
Satz ihren Werdegang bis zur Einschulung zusammen. Später verlief ihr Leben selbstbestimmter. Aufgewachsen in Hamburg, machte sie dort 1993 ihr Abitur und schlug anschließend beruflich eine
musikalische Karriere ein, die zugleich mit mehreren Ortswechseln einherging. Zum Musikstudium zog Nici Walde zunächst nach Berlin und anschließend nach München.
Seit 1999 ist sie als Profi-Fagottistin unterwegs, war unter anderem an der Staatsoper, am Theater Augsburg, beim Münchener Kammerorchester und der
Philharmonie der Nationen engagiert. Dazu ging es mit Konstantin Wecker und der Mozartband auf Tour, bis sie schließlich ihre eigene Rockband gründete. Und seit 2004 ist sie unverzichtbares
Mitglied beim Polizeiorchester Bayern. Der Ausdauersport aber ließ sie nicht los. Schon in der Jugend entdeckte sie ihre Begeisterung für die Langstrecke, Fünf-Kilometer-Läufe,
Zehn-Kilometer-Läufe – hier holte sie die Teammedaille im Zehn Kilometer-Straßenlauf bei den Deutschen Meisterschaften – und Triathlon-Erfahrungen in der Regionalliga waren der nur 1,51 Meter
großen Sportlerin nicht genug. Dann kam ihr das Schicksal dazwischen.
Ein heftiger Regenschauer bremst die Jagd auf den 24-Stunden-Weltrekord aus. ©Opel
Suche Frau für 24 Stunden
Zu einer Zeit, als die gebürtige Hamburgerin bereits zahlreiche Leistungen für sich verbuchen konnte, wollte sie mehr. Nur dafür fehlte ihr ein passendes
Rad. Und dem bayerischen Velomobil-Entwickler Fenn fehlte für seine Konstruktion eine geeignete Athletin, in dem von ihm selbst konstruierten und in Handlaminat gefertigten Velomobil einen
Weltrekord fahren könne. Das Ganze im Übrigen unter dem Post: „Suche Frau für 24 Stunden“. Nicola Walde meldete sich. Kurz darauf ging es gemeinsam auf den Lausitzring.
Zwölf Stunden trat Walde mit durchschnittlich knapp 49 km/h in die Pedale. Gut 585 Kilometer später stieg sie mit dem Weltrekord aus. So ist sie bereits seit
2015 im Besitz des so genannten 12Stunden-HPV-Weltrekordes (Human Powered Vehicles e.V.) für Damen. In den vergangenen Jahren knackte sie weiter fleißig Bestmarken: 2016 stellte sie eine
Weltbestleistung über 24 Stunden sowie über 1.000 Kilometer auf und wurde 2017 zum dritten Mal Weltmeisterin im vollverkleideten Liegerad. Seitdem immer an ihrer Seite: Daniel Fenn. Denn aus
der sportlichen Erfolgs- wurde zugleich auch eine Lovestory.
Oben links: Neben der Fahrerin war noch Platz für die Verpflegung. ©Kay Tkatzik
Oben rechts: Der Lenker ist spartanisch und gewichtsoptimiert ©Kay Tkatzik
Unten links: Die Klingel ist natürlich nur zur Erprobung angebracht. © Daniel Fenn
Unten rechts: Die Wandstärke des Modell M beträgt nur 0,8 mm. ©Daniel Fenn
Erst bremst der Regen, dann Heu im Radkasten
Die Tage um den 28. Juli 2018 waren sehr heiß. Die kreisrunde, ohne jeglichen Makel angelegte Fahrbahn im Opel Test Center in Rodgau-Dudenhofen bot also
beste Voraussetzungen. Motiviert beginnt Nicola Walde die Fahrt mit rekordverdächtigen 53 km/h, nimmt dann in der 13. Runde weiter Tempo auf und schafft es bis 18. Runde auf 55 km/h. Während
die Beobachter unter der Hitze litten, zog sie wie ein Uhrwerk ihre Runden mit nahezu konstanter Geschwindigkeit. Nach knapp vier Stunden hatte sie bereits 230 Kilometer zurückgelegt. Zwei
Stunden später waren es 320 Kilometer. Die Unterstützer fingen an zu kalkulieren.
Bei dem Tempo, das sie bis dahin gehalten hat, dürfte sie den Weltrekord irgendwann am frühen Morgen brechen. Etwa eine Stunde vor Ablauf der offiziellen
Zeit. Wären da nicht die Gewitterwolken, die gegen 17 Uhr die Strecke flutete und der Fahrerin die Sicht nahm. Die Geschwindigkeit fiel auf 30 km/h, eine Weile gar auf 12 km/h ab. Erst eine
Stunde später schaffte sie wieder ihr vorgegebenes Tempo von rund 50 km/h. Noch immer bremste die regennasse Fahrbahn, später loses Stroh zwischen den Radkästen. Nach 131 Runden, kurz vor
Mitternacht, nutzten die Betreuer dann die 35 Minuten Pause, um mehrere Hände voll Heu aus den Radkästen zu holen. Das alles kostet Kraft.
Der Motor sind deine Beine
und der Treibstoff dein Herz
Ein neuer Weltrekord ist geschafft
Der Wiederantritt gelingt mit einem merkbar niedrigeren Gesamtschnitt von etwa 46 km/h. Nach 14 Stunden hat sie so erst 670 km absolviert. Dann kommt mit der
Sonne und einem kurzen Frühstück die Kraft wieder. Bis kurz vor Sonnenaufgang schafft sie die 900 km Marke. Um 7:50 kratzt sie am aktuellen Weltrekord von Petra von Fintel (1011km). Nicola
Walde aber bleiben noch 2 Stunden 40 Minuten. Nach 1000 Kilometer will sie es nun wissen und erhöht das Tempo von 46 auf 51 km/h. Dann stellt sie um 8:47 den neuen Weltrekord auf. 1088
Kilometer in 24 Stunden.
Eine besonderen Dank geht an Opel, der das ehrgeizige Projekt fördert, „weil Anspruch und Haltung von Nici Walde auch den Geist der Marke und des
Unternehmens widerspiegeln“, erzählt uns ein Unternehmenssprecher.
Für die gesamte Konstruktion waren mehr als 400 Arbeitsstunden erforderlich. Erst dann passte das Velomobil perfekt zur Fahrerin.
Die Bilder zeigen die aus Carbon gefertigte Unterschale mit dem integrierten Fahrwerk. ©Daniel Fenn
Text: Andreas Burkert
Copyright Bilder: Opel, Daniel Fenn, Kay Tkatzik
Die 24-Stunden-Muskelkraft-Rekordfahrten
Weltrekorde mögen das Opel Test Center in Rodgau-Dudenhofen. Vom Wald umgebenen und damit recht windunanfällig, bietet die Hochgeschwindigkeits-Rundbahn
beste Bedingungen für Fahrrad-Rekordversuche.
Im August 1999 stellt sich Radsportler Lars Teutenberg mit seinem vollverkleideten Liegerad „White Hawk“ an die Startlinie. Das aerodynamisch optimierte, 90
Zentimeter niedrige und nur 46 Zentimeter breite Rad verfügt über Kohlefaserverkleidung und rahmen. Bei idealen Wetterbedingungen um 20 Grad Celsius tritt der Kölner in die Pedale seines 18,5
Kilogramm leichten Gefährts. Während der Fahrt beschleunigt er zwischenzeitlich auf fast 90 km/h – und legt als erster Mensch aus eigener Muskelkraft mehr als 80 Kilometer in einer Stunde
zurück.
Doch das ist dem ehrgeizigen Radrennfahrer nicht genug: Im ständigen sportlichen Wettkampf mit dem Kanadier Sam Whittingham verbessert Teutenberg am 27. Juli
2002 seinen eigenen Weltrekord auf 82,6 Kilometer in 60 Minuten. Genau zwei Jahre und vier Tage später, am 31. Juli 2004, hat wiederum Sam Whittingham die Nase vorn – ebenfalls in Dudenhofen.
Der Kanadier schafft auf der Rundbahn in der gleichen Zeitspanne nochmal 1,62 Kilometer mehr und hebt die Messlatte auf 84,22 gefahrene Speedbike-Kilometer pro Stunde an.
Einen weiteren Weltrekord im Liegerad nimmt sich 2010 der erfolgreiche Trondheim-Oslo-Fahrer Axel Fehlau vor. Er legt am 9. Oktober im Opel Test Center auf
seiner „Speedhawk“ in sechs Stunden 426,8 Kilometer zurück. Damit übertrifft er die alte Rekordmarke deutlich um mehr als 50 Kilometer. Die Durchschnittsgeschwindigkeit schraubt er so von
vormals 65 auf über 71 km/h hoch.