Vor 25 Jahren nahm Carol Urkauf-Chen die Feder bei KTM Fahrrad in die Hand und schrieb mit viel Mut, großer Kraft, ausgeprägtem Geschäftssinn und Verantwortungsgefühl eine ausgesprochen beeindruckende Firmengeschichte. Sie machte aus KTM ein international anerkanntes, sehr erfolgreiches, florierendes Unternehmen. Tochter Johanna Urkauf schreibt nun die Fortsetzung und steht in der Geschäftsführung ihre Frau.
Nicht immer waren die Zeiten bei KTM rosig. Im Jahr 1995 stand die Firma praktisch vor dem Konkurs. Viele Mitarbeiter mussten um ihren Job bangen. Am 7. Januar 1996 schließlich übernahm Frau Urkauf-Chen die Leitung und konnte mit großartigem Einsatz und unternehmerischem Geschick das Ruder herumreißen. Frau Urkauf-Chen hatte zum damaligen Zeitpunkt zwei kleine Kinder und sprach kaum ein Wort Deutsch. Ihre 18-jährige Erfahrung in der Fahrradbranche in Taiwan und ihre zahlreichen guten Beziehungen waren neben ihrem Mut ihr Kapital.
„Es war sehr schwer, aber ich hatte nie Angst! Für mich gab es nie die Frage, ob ich es schaffe, ich musste einfach.“, erzählt sie uns in einem Interview. Sie begann damals im Dezember Geld zu sammeln, um die Mitarbeiter mit Weihnachtsgeld in den Urlaub schicken zu können. Dass auch heute noch die Fluktuation der Belegschaft sehr gering ist und viele Mitarbeiter – teils seit drei Generationen – der Firma die Treue halten, spricht für sich. „Wir mussten alle sehr viel arbeiten“, meint Frau Urkauf-Chen, „um eine effiziente Produktion zu bewerkstelligen und die Mitarbeiter zogen mit.“
Bevor sie nachts in Eigenregie ihr Deutsch verbesserte, sprach man die internationale „Fahrradsprache“ mit Händen und Gesten. Ihre Devise „Jeder Erfolg gilt immer nur für den Moment“, drückt aus, dass die Rettungsaktion nicht für den schnellen Fortschritt ausgelegt war, sondern in Etappen auf langfristiges, sicheres, stetiges Wachstum setzte. „Ich kann immer nur kleine Schritte gehen, aber wenn diese Schritte eine Richtung haben, dann stellt sich der Erfolg ein.“ Frau Urkauf-Chens guter Name in der Branche, die vielen Kontakte und die Erfahrungen aus Taiwan kamen ihr zugute. „Ich habe 18 Jahre in der Fahrradindustrie gearbeitet. Ich wusste dadurch, welche Produkte der Markt benötigt. Aber wichtig war es, so schnell wie möglich eine effiziente Produktion zu bewerkstelligen.“
Ein großer Faktor für den Erfolg war die Stilllegung der alten Stahlfertigung 1998 und die Umstellung auf Alu-Rahmen aus Taiwan. Mit der Schließung der eigenen Rahmenproduktion für gemuffte und gelötete Stahlrahmen ging ein KTM-Kapitel zu Ende. Aber für die Fahrradfirma KTM – der Name steht übrigens für Kronreif, Trunkenpolz (beide Firmengründer) und den Standort Mattighofen – war es ein guter Anfang. „Ich musste das durchsetzen. Die Produktionsweise war nicht mehr zeitgemäß“, erklärt sie den schwierigen, aber notwendigen Schritt.
»Ich mag das Arbeiten im Fahrradbereich sehr gerne. Man ist hier sehr bodenständig,
was ich persönlich sehr schätze.«
Carol Urkauf-Chen setzt auf hochwertige Räder, Innovationen, Weitblick. Schon damals war das Thema E-Bike präsent. In Taiwan gehörten Fahrräder mit Antrieb als Transport- und Verkehrsmittel bereits seit Längerem zum Straßenbild. Und Carol Urkauf-Chen hat das E-Bike nie aus den Augen verloren, auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, bis die ersten Modelle 1994 an den Start gingen. Die Testversuche verliefen nicht wirklich erfolgreich und schließlich sogar im Sand. Mit einem Pedelec mit nur 5 Kilometern Reichweite und einem recht hohen Gewicht konnte man keinen Stern gewinnen. Doch heute zählen Pedelecs zu den Verkaufsschlagern im KTM-Sortiment, und viele Auszeichnungen und Preise belegen hohe Qualität und starkes Design. Vor allem mit der Sparte E-MTB, in der KTM als Vorreiter gilt, konnte man das damalige Image vom „Seniorenrad“ kräftig aufpolieren. Oft zieht die KTM-Chefin auch selbst ihre Kreise durch die schöne österreichische Landschaft. So hat sie auch an der Entwicklung entscheidend mitgewirkt, ihre Erfahrungen und Ideen eingebracht.
Auf die Frage, ob Sie eine Powerfrau in einer Männerdomäne sei, meinte Frau Urkauf-Chen im Interview, dass man es als Frau in einer Führungsposition schon doppelt schwer habe, man müsse doppelt Einsatz zeigen. Trotzdem betont sie: „Ich selbst würde mich nie als Siegerin oder Powerfrau bezeichnen. Ich habe in meinem ganzen Leben nie einen solchen Gedanken gehabt.“ Sie ist der Ansicht, dass Frauen sehr stark sein können, wenn sie ein Ziel haben, für das es sich zu kämpfen lohnt. „Frauen haben die Kraft und den Willen, den Weg zu gehen, den sie gehen müssen, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Das liegt in ihrer Natur.“
Seit 1. Januar 2018 ist Frau Urkauf-Chen nun in den Aufsichtsrat bei KTM gewechselt und ihre Tochter Johanna hat die Geschäftsführung des millionenschweren Unternehmens übernommen. Die 31-Jährige ist bewusst in die großen Fußstapfen der Mutter gestiegen, sie hat im Vorfeld alle Abteilungen bei KTM durchlaufen und wertvolle Erfahrungen gesammelt. Sie kennt die Mitarbeiter und die Mitarbeiter kennen sie. Die junge, ausgesprochen sympathische Frau geht mit vollem Einsatz, beeindruckender Bodenständigkeit und auch einer gesunden Portion Respekt an ihre herausfordernde Aufgabe heran.
Warum sie sich für die Bikebranche entschieden hat? „Ich mag das Arbeiten im Fahrradbereich sehr gerne. Man ist hier sehr bodenständig, was ich persönlich sehr schätze. Was mich auch beeindruckt, ist die Innovationskraft der Sparte.“
Johanna Urkauf weiß das Lebenswerk ihrer Mutter zu würdigen und erinnert sich mit großer Wertschätzung und Achtung an die herausfordernde Zeit, als es um KTM schlecht stand. „Ich war noch sehr jung. Die Kindergarten- und Volksschulzeit war schon ziemlich turbulent“, sagt sie. Die Mutter war oft müde, aber sie hat sich immer Zeit für die Töchter genommen, war immer für sie da. Wenn sie zurückblickt, wie ihre Mutter das alles gemeistert hat, gibt ihr den Mut und Willenskraft. Und sie sieht darin auch eine gewisse Vorbildfunktion.
Für die motivierte Frau in der Chefetage gilt es gerade jetzt in Zeiten von Corona viele Hürden und Widerstände zu meistern. „Momentan ist es meine größte Herausforderung, die Firma wie ein Schiff durch die stürmische Phase zu bringen. Mit Flexibilität, gutem Überblick und lösungsorientiertem Arbeiten muss ich versuchen, Mitarbeiter und Unternehmen durch diese ungewöhnliche Zeit zu führen. Paradoxerweise vereinfacht der erfreuliche Fahrradboom die Arbeit derzeit nicht, sondern bringt die gesamte Branche mächtig ins Schwitzen. Nicht nur der E-Bike-Bereich wächst außerordentlich, auch Fahrräder ohne Antrieb sind stark gefragt – aber Planung und Organisation werden schwieriger. Eine gute Organisation der Supply Chain ist so wichtig wie noch nie.
»Ohne Qualität ist Quantität sinnlos und vergebene Müh.«
Dennoch meint Johanna Urkauf: „Wir arbeiten eng mit unserer Mannschaft zusammen und setzen auf intensiven Austausch.“
Besonders darin sieht die aufgeschlossene Geschäftsführerin eine sehr positive Seite ihres Jobs, denn selbst wenn es momentan nicht einfach ist, so sind die tagtägliche Zusammenarbeit und die Gespräche mit den Mitarbeitern, dem Management und auch ihrer Mutter immer wieder eine Freude und sorgen für Motivation.
Gerade jetzt muss man motiviert und sehr engagiert an die Aufgaben herangehen. Auch Kreativität ist gefragt. Messen sind nicht möglich, so muss die Präsentation der Fahrräder und Produkte zum Beispiel mit Renderings umgestaltet werden. Erst kürzlich wurde die Homepage relauncht, neu aufgebaut und ein B2B-Shop für die Händler eingerichtet. Auch die Investitionen, wie etwa in die neue Produktionshalle, machen sich bezahlt. Die Leute haben ausreichend Platz und können entsprechend Abstand halten. Die neue Logistikhalle wurde fertiggestellt, ein Materiallager und ein Lager für den Großhandel sind in Planung. Alle Investitionen basieren auf dem Gedanken der Nachhaltigkeit. Dabei spielt die erneuerbare, selbsterzeugte Energie eine besonders große Rolle. Die klaren Trumpfkarten hierbei sind die Photovoltaik und die Nutzung von Erdwärme. Mit einer Leistung von bis zu 450.000 Watt pro Stunde ist die Photovoltaik-Anlage bei idealen Bedingungen in der Lage, einen Großteil des Strombedarfs für den Produktionsbetrieb zu erzeugen.
»Man verbindet mit dem Fahrrad
viele Erinnerungen.«
Und ganz wichtig, man muss weiterhin auf Innovation und Qualität setzen. Der Leitsatz stand in der Vergangenheit im Vordergrund und wird auch in Zukunft großgeschrieben.
Meine Mutter hat mir mal gesagt: „Innovation und Qualität zeichnen uns aus, Kapazitätswachstum muss sinnvoll sein. Sinnvoll und nachhaltig ist dieses Wachstum nur mit Qualität. Ohne Qualität ist Quantität sinnlos und vergebene Müh. Das ist die Seele unserer Firma.“ „Das werde ich nicht mehr vergessen, der Moment hat mich sehr berührt und beeindruckt, als sie mir damit wirklich die Seele unserer Firma vermittelt hat.“
Eine sehr große Stärke von KTM sind auch Auftritte bei Bikefestivals, Events und Workshops. Dafür sind zwei Eventfahrzeuge, bestückt mit Ausstellungs- und Testrädern, das ganze Jahr über unterwegs. Die Testfahrt ist noch immer der wichtigste Schritt hin zur Kaufentscheidung. Das Produkt Fahrrad ist zudem selbst das beste Marketinginstrument, denn man verbindet damit viele Erinnerungen und schöne Erlebnisse: Das erste Mal radeln, Trekkingtouren mit Freunden und Familie, Abenteuer auf wilden Trails, die Gleichheit auf dem Fahrrad.
Neben dem Außenauftritt bei Events sind es die digitalen Medien, die großartige neue Möglichkeiten bieten, um emotionalen Kontext zu liefern und ein breites Spektrum an Kunden zu erreichen.
„Das Fahrrad ist an sich ein emotionales Produkt und ich fahre selber sehr gerne, wenn es die Zeit erlaubt. Den Weg zur Arbeit nutze ich häufig, um neue Produkte zu testen und auszuprobieren. Im Sommer liebe ich Trekkingtouren. Ich bin überhaupt gerne an der frischen Luft, auch zum Wandern oder einfach Spazierengehen mit meiner Familie. Das ist entspannend und gibt mir viel Kraft. Und ich freue mich wirklich sehr darauf, wenn man sich endlich wieder unter normalen Umständen, also ohne Maske und Coronaeinschränkungen, mit Freunden in einem Gastgarten treffen kann.“